Die Wahrheit als erlebbare Höhe/Tiefe des Seins hat unmittelbar mit dem Erleben unseres Ich zu tun. Eigentlich müssen wir das aber nicht theoretisieren oder abstrakte Modelle darüber entwerfen. ‚Suche die Wahrheit und tue das Gute, aber komm dir dabei nicht gut vor, sonst bist du es schon wieder nicht!‘ Wer solche urchristliche Aufforderung als positiv-mühsam-glücklich-schöne Grundsituation erlebt, wird diesen Zusammenschluss als Selbstverständlichkeit gewärtigen, wenn auch nicht als Folge einer Logik sondern einer Erfahrung des Gehaltenwerdens-wenn-man-sich-selber-nicht-hält. Aber unser ganzheitliches Erleben ist als solches, ob nun ichbeharrend oder ichdispositional geprägt, generell nicht zu konkretisieren, zu bearbeiten, zu manipulieren oder zu verbessern. Da ist eine Finalität, die dem absichtsvollen Zugriff entzogen ist und unser Erleben 'kompaktiert'.

Es liegt eine große Gefahr von Daseinsverdrießlichkeit darin, das Ich und die Seelenbildung zu einem konkreten Gegenüber zu machen - wie das unser Intellekt mit allem tut, was als erklärbar anmutet -, das verfremdet unsere ureigene Daseinssituation. Falls beim Leser, was durchaus wahrscheinlich ist, auch mit der Lektüre dieses Buches technisch abstrakte Übersichtsvorstellungen vom Bewusstsein und Selbstsein sich auftun, was er vielleicht in allen möglichen Formen ohnehin schon pflegt, sei deutlich gesagt: Damit ist schon der so verbreitete wie vergebliche Versuch im Gange, das Bewusstsein von außen zu gestalten und die Identifikation selber identifizieren. Diese ebenso typische wie tückische Gleichsetzung des ganzheitlichen Bewusstseins mit dem von uns gestaltbaren und, so und so weit, konkret erfassbaren ‚Anteil’ daran ist ebenso ausfüllend (mein Bewusstsein) wie irreal. Zudem erweist sich das als öde und deprimierend, weil es auf eine Übernahme unseres seelischen Seins durch Konkretes hinausläuft; unser tiefstes Sein erscheint dann sächlich. Ja, wir sollten an unserem Ich dran sein, genauer über das Ich die Seele gestalten, aber nicht in einer versachlichten Perspektive auf das Ich. Und unter diese Perspektivität fallen die meisten bewusstseinsgestalterischen Ansätze, von der 'Erlangung mentaler Selbststeuerungskompetenzen' bis hin zum 'Biografisch integrierenden Lernen'. Unser Sein in Ich ist nur dann wirklich ein solches, wenn wir dieses Wesenserleben nicht schon als solches zu identifizieren trachten. Ein Ansatz, ein Grad von Identifizierung > Konkretisierung des Wesenserlebens ist wiederum natürlich und notwendig, und sie als solche zu verweigern, wäre nur im Negativ jene Perspektive auf das Ich.

Nun gibt es gerade seit der Moderne recht präzise Definitionen, was denn unter dem Ich zu verstehen sei. Diese Abhandlung stützt sich auf keine von ihnen, sondern lediglich auf ein allgemein menschliches Grunderleben, dass es hier um eine Wirklichkeit geht. Diese Wirklichkeit wird dann sehr wohl präzisiert, aber nicht etwa auf Anwendbarkeit oder eine privilegierende Erkenntnis hin. Wer ein Raffinement bei der Identitätsbildung anstrebt, wird so etwas - und die vertrackte Selbsttäuschung inklusive – zielsicher mit der populären spiritualistischen Literatur erlangen. Bei den meisten psycho-esoterischen Autoren, aber das reicht auch weit in den anerkannten Teil der Psychologenschaft hinein, ist es geradezu ein Kennzeichen, dass die Ichdefinitionen griffig und anwendbar sind. Fast immer weisen sie eine ebenso reduktionistische (Ichkonzepte als anwendbar verfüglich) wie ausufernde (das ganze Leben wird terminologisiert auf jene Konzepte hin) Ideenhaftigkeit auf, liefern psychotechnische Anleitungen, wie ich mit meiner Seele umzugehen hätte. Da wird man dem Ich aus der Hand genommen, um das Ich in die Hand zu bekommen. Besonders seit die Wissenschaft alle Autorität übernommen hat, auch in Geistesfragen, und ein modellhaftes Realitäts-Vorstellen das Denken bestimmt, inzwischen wohl immer mehr ein computeranimiert vorgestellter Realitäts-Flash, wird auch die Seele in jenes sachlich betrachtbare Gegenüber gerückt.

Modellhaft umgegangen wurde mit dem Thema vielleicht schon immer, oft ja auch erklärtermaßen, in Diensten einer umfassenden Welterklärung oder eines therapeutischen Ansatzes. So hat Sigmund Freud das Ich als Instanz definiert, welche zwischen den Anforderungen der Umgebung, die als Überich verinnerlicht seien, und dem Triebhaften, dem Es vermittle.1 Von hier aus ließ sich eine ganze Seelenkunde entfalten, ein stringentes Bezugssystem mit systematisierbaren Störfällen. Die seelische Dimension des Menschen war freilich auf die eines reinen Triebwesens reduziert. System sprengende Sinnfragen und höhere Spiritualität, die über aller Naturgesetzlichkeit steht und je individuell aufscheint und sich jeder methodischen Erfassung entzieht, blieben außen vor bzw. wurden über Stichworte wie Sublimierung im System untergebracht. Doch schon was das Ich angeht, ist dieses eben keine vorauszusetzende Größe im Menschen - es kann sich auftun und verflüchtigen. Wenn es nicht ‚da’ ist, empfinden wir zwar den Anspruch darauf, fühlen die Grundsehnsucht nach einem Sein-in-Ich, aber unter dem Ich ist nicht eine gegebene Instanz, sondern mehr der gelingende Vollzug einer Dimension zu verstehen; erst von hier aus erhält es Positivität. Natürlich wurde das auch schon von Freud thematisiert, besser gesagt gestreift, als Möglichkeit des Selbstverlusts in verschiedenen Facetten, aber eben nicht als positive Problematik der Freiheit, die jeder Theorie der Seele zentral innewohnen müsste. J.-P. Sartré hingegen, mit seinem verabsolutierten Freiheitsbegriff, verneint jegliches substanziale Ich. Von einem Ich zu reden, sei nur ein Verlegenheitskonstrukt angesichts der erlebten Einheit unseres Bewusstseins.2 Karl Marx wiederum, der im menschlichen Wesen nur ein Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse sieht, hat jedes seelisch Originäre unseres Selbsterlebens aufgegeben oder auch preisgegeben zugunsten einer Totalität gesellschaftlicher Prozesshaftigkeit.3 Neuere Richtungen wollen alles von physiologischen Prozessen ableiten und z. B. evolutionsbiologisch rekonstruieren, welche geistigen Module sich wozu herausbilden. Das Ich wird dabei oft wieder als gegebene Instanz gedacht, die organisatorisch mit Gehirnsignalen verfährt, oder aber als Illusion gedeutet, die uns lebensfunktionell darüber hinwegtäuschen soll, dass da nur ein kognitives Netzwerk am Verarbeiten, Bündeln und Ausfertigen von neuronalen Impulsen ist.4
1 Sigmund Freud, Das Ich und das Es: Metapsychologische Schriften, Fischer Taschenbuch, 12. Aufl., Frankfurt a. Main 1992
2 Jean-Paul Sartré, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Rowohlt Verlag, Reinbeck 1962
3 Karl Marx, Thesen über Feuerbach, 1845, nach der Veröffentlichung des Marx-Engels-Lenin-Instituts, Moskau, 1932.
4 Michael Gazzangia, Wie Bewusstsein und freier Wille entstehen, HanserVerlag, München 2012

All das widerspricht unserer tiefen Erfahrung, die ein ursprunghaftes Selbstgefühl immer schon voraussetzt. Wir erleben das – falls es nicht abgeblockt oder überdeckt bzw. uns von allzu pfiffigen Theorien effektiv ausgeredet wird - als vorausliegendes Angesprochensein. Es liegt real über und vor den Situationen, wie sie uns lebensweltlich endbewusst erreichen, und entsprechend auch über der gesellschaftlich konventionalen Heranbildung von Ichverständnissen. Es ist unserer physiologischen Signalverarbeitung ‚interaktiv vorausliegend’. Das ist hier freilich schon in der Sprache des Glaubens formuliert. Ja, der Autor dieses Buches glaubt, dass wir von Anfang an subjekthaft sind.
(Auch wenn sich befruchtete Eizellen laut Labortests bis zum zwölften Tag in eineiige Zwillinge aufteilen können und umgekehrt; das Subjekt-Eins kann trotzdem schon mit der Empfängnis zuerkannt sein und die Teilung bzw. Zusammenführung eben nicht zufällig, sondern beabsichtigt geschehen. Die Leib-Seele-Zusammenhängigkeit sollte da freilich nicht zu massiv plastisch gedacht werden.)
Und der Autor glaubt, dass bereits frühestkindlich, also lange vor der sprachgestützt erinnerbaren Kindheit, eine Aura des Selbstbezüglich-in-der-Welt-Seins gegeben ist und sehr bald ein empfundener Einklang mit den Dingen, dass sie bedeuten. Das ist ursprunghaftes Erleben unserer selbst, welches – soweit wir es realisieren – jeder philosophischen Besprechung vorausliegt; und keinerlei Wissenschaft kann es umfangen.

Überhaupt muss (und kann) das Ich über seine Funktionalität nicht belehrt werden. Themen und Motive, Wünsche und Vorstellungen, und was alles unser Seelenleben ausfüllt, streben einer ich-zentrierten Daseinserfahrung zu bzw. gehen erst davon aus. Um dem Ichsein dienstbar zu werden, müssen sie wohl eine bestimmte Charakteristik aufweisen, doch wird ihre Abweisung oder Zulassung auf unser Ich hin – eine geheimnisvolle seelische Leistung – dann auch schon über das Ich getätigt; wir wollen nur auf eine bestimmte Weise ich sein.

Jeder von uns wird sich z. B. an Situationen erinnern, in denen er von sich selbst berauscht war, vermutlich nur vorübergehend, ja im Ergebnis blieb vielleicht nichts als die Zerstörung einer (weiteren) Illusion. Es hatte sich ein Ich gezeigt und wieder verflüchtigt. Geht es in diesem Buch womöglich darum, wie man ein solches Ich halten könnte? – Nein, und es wird sich ohnehin nur um ein betriebenes Ich gehandelt haben, typischerweise begleitet von der euphorischen Aussicht, ich könne mich nun auf den Schwingen eines Ichbildes von den kleinkarierten Zusammenhängen des Lebens abheben. Aber das fällt erfahrungsgemäß immer in sich zusammen.

Geht es also vielleicht um die Rückstufung oder gar Vermeidung von Ichbildern? Wie das etwa in der orthodoxen Frömmigkeit anzutreffen ist, Selbstverleugnung, wie ja im Evangelium gefordert, als Selbstauflösung. Das führt im Effekt aber zu dem schon angesprochenen Negativ des Ichs, und dies dann wieder plastisch und konkret positiviert. Auch das Negativ ist freilich in allen möglichen Gestalten zu finden, besonders häufig in klügelnd offensiven Konzepten intellektueller Frömmigkeit. So trägt sogar noch der von C. S. Lewis dargelegte Optimalzustand des Bewusstseins, sein Ich am besten ganz zu vergessen, diese Problematik der konzeptionellen Ich-Bezugnahme in sich.1 Auch die Vermeidung/’Vergessung’ des Ichs ist eine Form von Betreibung desselben (und die tiefere Demut bestünde darin, nach einem gottgewollten Maß von Ichbewusstheit zu streben.)
1 C. S. Lewis, Ein Jahr mit C. S. Lewis: 366 Inspirationen aus seinen Werken, Verlag Gerth Medien, 1. Aufl., Aslar 2005

Und jedwedes getätigte Ich, ob unter positivem oder negativem Vorzeichen, steht dem tätigen Ich entgegen. Um dieses geht es – die aktive Realität meines Selbstseins.

Alle reduktionistischen Theorien über Identität und Intentionalität haben einen ‚Vorteil’ – in tiefster Seele glaubt man sie nicht. Ein Hirnforscher mag die Freiheit des Willens leugnen und Identität als notwendiges Ergebnis von Einflüssen und Signalverarbeitung betrachten, das wird ihn nicht dazu bringen, sich als unfrei zu erleben, eher im Gegenteil: Das vermeintlich erlangte Wissen über unsere Unfreiheit verschafft seiner Identitätsbildung einen empfundenen Startvorteil, und seine Identifikation wird es in die Identitätsbildung integrieren – aber nicht als wahre Darstellung, so dass er etwa die Selbstwahrnehmung als Autorität seines Wollens verlöre, sondern nur als lebenstechnische Privilegierung mittels eines überlegenen Wissens. Echte Interferenzen hingegen sind zu befürchten, wenn sich Theorien wirklich auf unsere – immer nur erlebbare – Ganzheitlichkeit erstrecken.

Mit der Besprechung von Dingen und Zusammenhängen leidet nur allzu leicht deren vitale Wirksamkeit. Doch ist auch das ein Gesetz: Wo der Mensch die Selbstverständlichkeit, in welche er von Kind auf verfügt war, reflexiv gebrochen hat, bleibt eine Offenheit, die er thematisieren muss. So heißt es den Verstand einsetzen und nicht ersetzen, etwa durch das Diktat eines ‚natürlichen’ Wunsch-Ich. Jedes Ich wird zur Maske sowie ich das Denken in seinen Dienst stellen will. Aber auch die erklärte, vielleicht schon spitzfindig lauernde Aufdeckung und Verweigerung von Masken mündet in eine selbstreferenzielle Projektion. Das Ergebnis ist dann kein dynamisierendes Ichbild, sondern ein dynamisch konzeptioneller, im Effekt ebenfalls ich-doktrinärer Modus, wie man das Leben an sich heranlässt.

Man hat oft den Eindruck, dass wir heute in dieser ureigenen Angelegenheit unserer selbst nur noch von Fraglichkeiten umgeben sind. Damit haben sie, die Fraglichkeiten bis hin zur manischen Hinterfragung unseres Ichs, in gewisser Weise doch Eingang gefunden in die gesellschaftliche Diskussion, in den Kanon unserer Verständigung, freilich unterschwellig, als Geistesklima und Atmosphäre der Verunsicherung, weniger auf der Ebene der alltagssprachlichen Lebenswelt. Inzwischen macht sich zwar auch eine gesellschaftliche Tendenz bemerkbar, jeder Selbstproblematisierung lustvoll überdrüssig zu sein, sie in Bausch und Bogen zu verwerfen und aufzugeben zugunsten einer schlanken Überlebenshärte in unserer globalisierten Welt.

Also be-denken wir, was hier an Fragen aufgeworfen ist, doch ohne ihre Lösung im ausdrücklich Denkerischen zu erwarten oder auf ein identitätskonzeptionell einsetzbares Wissen abzuzielen. Der Inhalt dieses Buches kann auch gar nicht, im klassischen Sinne, gewusst werden. Wissen als in Ichbildung sich vollziehender Daseinszugriff kann in dieser Bedingungshaftigkeit nicht 'sich selber wissen'. Die Identifikation kann nicht auf sich selbst – als auf etwas zu Identifizierendes – abheben. Diese Selbstaufhebung bedeutet eine Grenze für die Macht unseres Wollens. Aber unsere Fähigkeit zur Identifikation > Identitätsbildung hat einen anderen Sinn: Modul der Freiheit mit deren Bedingungen zu sein.

Johann Stahuber, Stand 16.03.2015