Wie ich in eine Situation eintrete, besteht mein Bewusstseinsaufkommen vielleicht zu 99 Prozent aus Unterbewusstheit, genauer gesagt, seelisch ~ physiologisch generierter Präsenz einer bestimmten Auswahl meiner Selbstgeschichte > selbstgeschichtlichen Wirksamkeit. Das Unterbewusste ist ja kein tumb eigendynamisches Reservoir von archaischen, animalischen, infantil traumatischen oder sonstwie unmündigen Impulsen und Triebausprägungen, also ‚nicht ganz auf der Höhe‘, sondern feinst gefügte, aus vormaligen bewussten Identifikationen gebildete selbstgeschichtliche Wirksamkeit.

Wenn Freud von einer narzisstischen Kränkung des Menschen spricht, weil dieser keine Kontrolle habe, was ihn aus dem Unterbewussten heraus bestimmt, so ist das entscheidend zu korrigieren. Er hat es ‚kontrolliert‘ (also im Sinne von Identifikation, die ihrerseits autorisiert - ‚kontrolliert’ – wurde von der Entscheidungsinitiation) im Laufe seiner Selbstgeschichte. Der Mensch kann lediglich die Wirkung seiner Identität nicht im Jetzt-Moment neu konstituieren. Dann wäre sie auch nicht mehr Identität, also Selbstgeschichtlichkeit auf der gleichen wesenhaften Höhe, wie ich mich hier und jetzt identifiziere. Wie ich geworden bin, dass drängt vielschichtig in die Gegenwart, und bei aller Anfälligkeit, Neurosen und Psychosen auszubilden, sollte mich die selbstgeschichtliche Wirksamkeit doch zuerst in freiheitliche Situationen führen. Auch die zeitgenössische (post-)strukturalistische Theorie, dass das Unterbewusste wie eine Sprache funktioniere, stuft es von dieser Freiheitlichkeit auf eine zuspielende Funktionalität herunter.

Impulse, Reflexe, Triebe, Reize mögen als unterbewusst, vorbewusst oder unbewusst definiert werden, es ist eine schier unlösbare Definitionsfrage, ob sie dabei selbst unbewusst bleiben oder ob sie erst mit (einem Grad von) Bewusstwerdung als Impulse und Triebe usw. zu bezeichnen seien. Es ist hier die ganze Frage nach dem Sein des empirisch Aufweisbaren zu dem ~ mit dem Sein des persönlich Erlebbaren aufgetan. Schon die Fragestellung ist aber kaum zu leisten, ohne mit verfälschend identifizierten ‚Realitätsposten’ zu verfahren.

Die Psychotherapie setzt beim Erleben an, hat hierbei aber auch mit – so und so weit empirisch erfassbaren - Regelhaftigkeiten zu tun, mit leichter fasslichen Zwängen wie mit komplizierteren seelischen Gestalten, die dazu noch interaktiv sich gestalten im Therapieprozess. Erleben zu besprechen ist von vorneherein eine recht unabsehbare Angelegenheit, mit beiderseitigen unterschwelligen Eitelkeiten und identitätshaften Übertragungen. Das therapeutische Gespräch mag dann als gelungen oder weniger gelungen empfunden werden ‑ die Nachwirkungen erweisen erst richtig, was stattgefunden hat, und zwar nicht nur auf den offenkundigen Problemfeldern, sondern insgesamt. Es kann ein Problem gelöst sein, aber gerade mit der Problemlösung ein viel größeres eröffnet sein. Aus einem grobschlächtig monolithischen Verständnis heraus (Realitätsposten wie Das Unbewusste etc.) hat vielleicht ein massiver Eingriff in filigrane Verwobenheiten stattgefunden. Das kann schon der Fall sein, indem Dinge überhaupt angesprochen, also begrifflich positiviert werden. Der andere mochte diese Dinge irgendwie nicht in sprachliche Abgreifbarkeit überführt wissen, vielleicht aus einer tiefen Sensibilität heraus, dass sie mit der Offenlegung ihre Authentizität, ihren Reiz verlieren müssen. Viele Psychologen gehen leider wie Trampeltiere mit solchen Verwahrungen um, versuchen gar, ein prinzipiell offenes – in realer Wirkung offensiv konzeptionelles - Gegenüber zum Wortgebrauch herzustellen. Da gibt es dann keinen Respekt mehr vor einer herangebildeten Stufung der Bewusstmachungen und Benennungen, auch keinen vor ‚versunkenen Worten’. Es gibt nur noch die schnöde Unterscheidung: worthaft belegt oder nicht. Und weil man über das methodische Skalpell verfügt, Schlüsselworte für Fehlleistungen ans Licht zu holen, sie zugänglich zu machen für eine offene Bearbeitung des Problems, so tut man es auch.

Die Fehlleistung mag auf diese Weise korrigierbar sein, aber es ist auch ein unabsehbarer Eingriff ins komplexe Ganze erfolgt. Wenn identifikativ verinnerlichte Begriffe aus dem Unterbewusstsein herausgedockt werden, sind damit - um in plastischer Anschaulichkeit zu reden - nicht einfach blinde Puzzlestücke nutzbar gemacht worden, sondern ein vielschichtig hierarchisch verwobenes Ganzes wird darauf reagieren, dass es wie ein einschichtiges Puzzle behandelt wurde. Auf welche Weise instrumentalisierte Begriffe ihre Funktion verändern, lässt sich pauschal natürlich nicht sagen, die Wirkung ist jedenfalls umso problematischer, je mehr der Analysand zu einem offensiven Umgang mit diesen Begriffen angehalten wird. Sie waren bisher vielleicht Etappenbegriffe auf bewusste Identifikationen hin, jetzt werden sie Endbegriffe, mit denen ich selbstbestimmend umgehe. Sie waren bisher erzählerisch zuspielenden Charakters und gehörten so verschiedenen Identifikationsvorlagen an, jetzt eröffnen sie handlungsworthaft dominant neue Selbstseinsweisen. Solche aus ihren identifikativen Zusammenhängen herausisolierten Begriffe können als Fremdkörper meine selbstgeschichtliche Wirklichkeitsverfügung tatsächlich aushebeln. Sie wieder lebenstüchtig zu integrieren – ich muss von meiner Selbstgeschichte her und in lebensdramaturgischer Sprache in das Jetzt gehen – wäre oft eine hohe Kunst. Selbstgeschichtlichkeit heißt zwar auch Veränderbarkeit, und dazu muss es die identifikative Veränderbarkeit von Begriffen geben; wir sind ja stets dazu aufgefordert, unsere verinnerlichten, für die bewusste Identifikation zum Tragen kommenden Weltverfügungen zu prüfen, aber nicht lebenswissenschaftlich konkret, sondern lebensdramaturgisch sich konkretisierend.

Ähnlich gelagert ist die Problematik von Lerntechniken. Da wird etwa auf Phänomene wie dem Aha-Erlebnis aufgesetzt – und zuwenig realisiert, welch unabsehbaren Eingriff solches ‚biografisch integrierende‘ Lernen in mein selbstgeschichtlich verankertes Begreifen und Wollen darstellt. Zunächst gilt zwar für jede Art von Lernen: Wenn ich einer Thematik folgen muss, also einer Linie von Begriffen, die jeweils mit einer Ichcharakteristik – sowohl vom Autor her als auch dann von mir – befrachtet sind, stehe ich in Identitätsauseinandersetzung. Aber diese einer Raffinesse der Motivation auf ganzheitliche Persönlichkeitsentfaltung hin (oder was jemand darunter versteht) unterzuordnen, überführt sie in eine Art Lebensmeisterschafts-Ichbetreibung. Die entscheidende Frage, wozu Lernerfolg gut sein soll, wird von solchen Lernkonzepten zwar thematisiert, doch nicht in eigentlicher Tiefe aufgegriffen, ja in Konsequenz abgefedert von einer prinzipiellen Zuversicht ins Gebildet-Sein. Oft ist gar die Rede von einer Gebrauchsanweisung für unser Gehirn, es wird unbedarft instrumentalisiert, auf dass wir in der Gesellschaft – die auch zunehmend nur noch als Chancengesellschaft definiert wird – bestehen können. Die Frage nach dem Sinn jedwelcher Bildung stellt sich aber viel grundlegender und radikaler.

Johann Stahuber, Stand 13.5.09